Blausäure: Das “Blausäure-Märchen“
“Die Zufütterung von Leinsamen oder Leinöl“, schreibt Cornelia Wittek in ihrem Buch “Von Apfelessig bis Teebaumöl,“ sollte heute selbstverständlich sein. Nicht nur der Fellwechsel würde schneller und problemloser ablaufen, auch nach Koliken und Krankheiten kommen Pferde schneller wieder zu Kräften. So unbestritten die positiven Wirkungen von Leinsamen sind, so hartnäckig wird immer wieder auf mögliche Gefahren einer Blausäure-Vergiftung hingewiesen. Der vielzitierte “Vergiftungsfall“ bei Pferden Ende des 19. Jahrhunderts wurde freilich nicht durch blausäurespaltende Glykoside verursacht, sondern durch die Verfütterung von verdorbenem Leinsamen, der Schimmelpilze enthielt.
Für die Abspaltung von Blausäure verantwortlich ist das im Leinsamen enthaltene Enzym Linamarase. Damit dieses Enzym überhaupt messbare Mengen von Blausäure freisetzen kann, müssten freilich verschiedene ungünstige Faktoren zusammentreffen. Zum einen bedarf es größere Mengen mehlfein gemahlenen Leinsamens (300 g und mehr). Diese müssten im Magen auf einen pH-Wert zwischen 4 und 6 treffen, wo das Enzym dann über 4 Stunden “ungestört” Blausäure abspalten könnte. In der Praxis jedoch wird im sauren Milieu des Magens das “Spalt-Enzym” großenteils unschädlich gemacht und Restmengen an freigesetzter Blausäure durch körpereigene Mechanismen deaktiviert.
Bis heute sind bei Daueranwendung von Leinsamen keine gesundheitsschädigende Nebenwirkungen bekannt geworden und auch nicht zu erwarten.